Cruise To You

Ein Urlaub, der alles verändert. Zwei junge Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die siebzehnjährige Leonie liebt Schnee und Weihnachten. Doch die Bescherung an Heiligabend wird zu einem Desaster: Unerwartet laden ihre Eltern zu einem Kreuzfahrt-Urlaub in die Karibik ein. Bereits am nächsten Tag sieht sie sich mit 25 Grad, Sonne, Meer und einer Kabine von der Größe eines Schuhkartons konfrontiert. Für Leonie ein Albtraum, aus dem es für die nächsten zehn Tage kein Entkommen zu geben scheint. Doch dann begegnet sie Deonte, der nicht nur ihre Gefühlswelt ordentlich auf den Kopf stellt.

Sarah Lemme hat mich auf eine wunderschöne Reise mitgenommen – nicht nur in die herrliche Kulisse der Karibik, sondern vor allem in die Gefühlswelt eines Teenagers mit all ihren (scheinbar unlösbaren) Problemen, Katastrophen und Höhenflügen.

Jana, Leserin.

Dieses Buch hat mir große Freude und Fernweh bereitet!

Ellen, Leserin

„Sehr schön, leicht, lustig und modern geschrieben“

Zuzana, Leserin

Leseprobe

Kapitel 1

Datum: 24.12.; 14:23 Uhr; Ort: Hamburg, Garten der Familie Herrmann

Mich trifft etwas Hartes am Hinterkopf. Zu weich für einen Stein, aber als mir eine eiskalte Flüssigkeit in den Nacken läuft, erstarre ich. Ich fische die Eiskrümel aus der Kapuze, stecke das Handy in die Jackentasche und drehe mich um. »Emily!«, rufe ich und stemme die Fäuste in die Hüften.

Meine beste Freundin steht ein paar Schritte entfernt und kichert. Mit ihren klobigen Schneeboots schiebt sie den Schnee vor sich her. Die erste Kugel für ihren Schneemann liegt schon bereit. Mein Exemplar kann durchaus einen runderen Bauch vertragen.

In den letzten Stunden hat sich der Garten hinter unserem Haus in ein Winterwunderland verwandelt. Ganze fünfzehn Zentimeter Neuschnee sind gefallen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann es zuletzt mehr als eine Puderzuckerschicht geschneit hat, doch heute hat Frau Holle ihren Job perfekt gemacht. Schnee pünktlich zu Heiligabend! Mein größter Weihnachtswunsch ist in Erfüllung gegangen. Unter meinen Sohlen knirscht der Schnee, als ich mein Gewicht auf das andere Bein verlagere und einen Schritt auf Emily zu mache. Ihre Wangen sind gerötet.

»Ich wars nicht. Ich schwöre, Leonie.« Emily streckt ihre rechte Hand in die Luft, vermutlich die in den Fäustlingen versteckten Finger zum Schwur gekreuzt.

Ich presse die Lippen aufeinander. Okay, ich glaube ihr. Zutrauen würde ich es ihr trotzdem. Ich sehe mich um. Wo steckt der Schneeballwerfer? Im Sonnenlicht funkeln Millionen Eiskristalle und bilden eine perfekte Symbiose mit dem blauen Himmel. Kaiserwetter, wie man so schön sagt. Ich schirme die Augen mit einer Hand ab und bleibe an der Person hängen, die auf der Terrasse steht und mich diabolisch angrinst. »Lukas! Na warte!«, rufe ich und bücke mich. Schnell forme ich etwas Schnee zu einer Kugel und schleudere sie ihm entgegen. Leider duckt sich mein kleiner Bruder behände unter dem Geschoss weg.

»Schneeballschlacht!« Lukas stößt einen Schrei aus und versteckt sich hinter den abgedeckten Gartenmöbeln, die geduldig auf ihren nächsten Einsatz im Frühjahr warten.

Hastig sehe ich mich um. Jetzt gibt es Krieg! Auch Emily stößt ein Indianergeheul aus und geht hinter einem Baum in Deckung. Nur ich verbleibe mitten auf der Wiese. Der nächste Schneeball verfehlt mich um Millimeter, so nah, dass ich den Luftzug spüre, als er an meinem Ohr vorbeifliegt. 

Endlich erreichen die Signale meines Gehirns die Beine, und ich hechte hinter die Kirschlorbeerhecke, die zum Glück auch im Winter grün und dicht ist. Heute trägt sie zusätzlich ein schickes weißes Dach.

Eigentlich sollten zwei siebzehnjährige Mädchen einem fünfzehnjährigen Jungen haushoch überlegen sein, doch dem ist nicht so. Wie auch immer Lukas es anstellt, seine Schneebälle donnern wie Kanonenkugeln auf uns zu. Schnell, hart und präzise.

Boah, warum habe ich meine Handschuhe kurz zuvor zum Selfie machen ausgezogen? Nun liegen sie zwischen Lukas und mir, genau in der Schussbahn. »Getroffen!« Ich recke die Arme in die Luft, als weiße Spuren an Lukas Schulter aufblitzen, die er lässig abstreift. Erst jetzt fällt mir auf, dass er lediglich einen Pullover trägt. Allein vom Zusehen bekomme ich eine Gänsehaut. Friert er nicht?

Wobei mir jetzt auch warm ist. Schweißtropfen perlen meine Schläfen hinab, und ich bin reichlich außer Atem. Dunstwölkchen bilden sich in raschen Abständen vor meinem Gesicht.

Die Schlacht dauert bis zur Dämmerung und findet keinen eindeutigen Sieger. Erschöpft plumpse ich in den Schnee, der seine Unberührtheit eingebüßt hat.

»Habt ihr schon genug?«, höre ich Lukas rufen und stelle mir vor, dass er wie ein König posiert und auf den Garten hinabschaut.

»Morgen gibts die Revanche!«, rufe ich und hisse damit die symbolische weiße Fahne. Ich reibe meine schmerzende Schulter. Wahrscheinlich bekomme ich den Muskelkater des Todes. Aber das ist es wert!

Geduckt schleicht Emily zu mir herüber. Bei Lukas weiß man nie, ob er sich an die Waffenruhe hält oder unbedingt noch einen letzten Schneeball platzieren will. Doch nichts passiert.

»Wie habe ich das vermisst!« Emily grinst und ihre Augen funkeln mit den Schneekristallen um die Wette.

»Ja, Kissenschlachten sind einfach kein Ersatz für richtige Schneeballschlachten«, bestätige ich und wische mir mit klammen Fingern eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Um mir die Frostfinger zu ersparen, hätte ich es riskieren müssen, meine Handschuhe zu retten.

Ein Handy brummt, und ich greife in meine Tasche. Diesmal ist es jedoch Emilys Klingelton. »Ja?«, fragt sie, und ich höre, dass es ihre Mutter ist. »Ja, ich komme nach Hause.« Eine kurze Pause, in der ich mich aufrapple. Zaghaft linse ich über die Hecke. Von Lukas ist nichts mehr zu sehen.

»Ja, Mama. Ja, ist gut.«

Fragend schaue ich Emily an, als sie das Handy zurück in ihre Jackentasche steckt.

»Ich muss los. Das Abendessen und die Bescherung warten«, sagt sie. Es ist Heiligabend. Der Schnee war der perfekte Grund, um sich dennoch heute zu treffen.

Ich sehe zum Haus. »Ich sollte auch reingehen.«

»Wiederholen wir das morgen?«

»Na klar. Lass uns dann den Schlitten mitnehmen.«

»Gebongt!« Sie umarmt mich. »Frohe Weihnachten, Leonie.«

»Frohe Weihnachten.«

Ich schaue ihr hinterher. Seit dem Kindergarten sind wir nur im Doppelpack anzutreffen. Zum Glück sind auch unsere Eltern befreundet, und wir wohnen lediglich ein paar Häuser voneinander entfernt.

Ich klopfe den Schnee aus den Klamotten und gehe ins Haus. Die wohlige Wärme, die mich empfängt, lässt meine Nasenspitze und meine Wangen kribbeln. 

»Da bist du ja«, sagt Mama. »Um sechs Uhr gibt es Abendessen.«

Ich nicke und sehe auf die Uhr. Noch zwei Stunden. Allein bei dem Gedanken an den Rehrücken knurrt mein Magen. Jedes Jahr zaubert Mama ein Festmahl, doch noch liegt kein typischer Duft nach Wild oder Braten in der Luft. Trotzdem muss ich mich sputen. Rasch renne ich in den ersten Stock, werfe mein Handy aufs Bett und gehe ins Badezimmer. 

Das warme Wasser perlt über meinen Körper und vertreibt die letzte Kälte aus den noch immer prickelnden Fingern. Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht unter den Wasserstrahl. Weiße Weihnacht. Ein absoluter Traum! Fehlen nur noch die richtigen Weihnachtsgeschenke unter dem Baum, und der Tag ist perfekt.

Als ich wenig später vor meinem Kleiderschrank stehe, fällt mir die Auswahl nicht schwer. Das knielange Wollkleid mit Schottenmuster in grünen und roten Tönen schmiegt sich wärmend an meinen Körper. Die schwarze Winterstrumpfhose, Stulpen und meine Lieblingskette, auf der Frohe Weihnachten eingraviert ist, runden das Bild ab.

Aus der Bluetooth Box erklingt leise Weihnachtsmusik. Summend wippe ich im Takt von It’s The Most Wonderful Time Of The Year mit und löse das Handtuch vom Kopf. Mit langen Bürstenstrichen entwirre ich das Chaos. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis jedes Haar in der gewünschten Form ist. Die eine Seite habe ich hochgesteckt, die restlichen Haare meiner blonden Mähne fallen locker über die Schulter. Fehlt noch das Make-up. Konzentriert und mit einer ruhigen Hand bin ich diesmal überraschend fix. Zufrieden betrachte ich mein Werk im Spiegel. Das ist angemessen, um vernünftige Weihnachtsfotos zu machen. Schließlich möchte ich den Followern auf Social-Media, vor allem meiner Community auf Instagram, schöne Weihnachten wünschen, und das geht nur mit einem Foto von mir neben dem Weihnachtsbaum.

Ich nehme mein Handy und öffne die Insta-App. Zehn ungelesene Nachrichten, 377 neue Likes und drei neue Follower, sodass ich auf stolze 3712 Follower blicken darf. Recht beachtlich, wie ich finde. Besonders mein Weihnachtscontent findet überdurchschnittlichen Anklang. Natürlich haben andere noch viel mehr Follower, aber ich bin froh über jeden, der sich für mich und meinen Feed interessiert.

Eine Nachricht erregt meine Aufmerksamkeit. Sofort sinkt meine Laune in den Keller. 

»Feige Bitch!«, ist der gesamte Inhalt.

Der Accountname ist mir unbekannt, aber ich weiß genau, wer die Worte geschrieben hat. Mein Ex. Seit ich vor drei Monaten Schluss gemacht habe, eröffnet er ständig neue Accounts, um meine Bilder zu kommentieren oder mir private Hassnachrichten zu schicken. Sobald ich den Account melde, taucht er am nächsten Tag mit einem neuen auf. Es ist frustrierend. Genervt lösche ich die Nachricht, melde das Profil und blockiere ihn. So wie immer. Soll Leon bleiben, wo der Pfeffer wächst! 

Es hätte so gut gepasst. Leon und Leonie. Wir sind uns nähergekommen, hatten eine kurze, aber schöne Zeit. Sogar ziemlich nah. Wolke 7 und die rosarote Brille hatten mich vollkommen vereinnahmt. Selbstverständlich habe ich mit ihm mein erstes Mal erlebt. Meine Wangen erhitzen sich bei dem Gedanken an die gemeinsamen, zugegebenermaßen sehr heißen Stunden. Aber was er sich dann geleistet hat, war unmöglich. Er hat mich belogen, betrogen und hintergangen. Jetzt kann ich mich wieder ohne Ablenkung auf meine Abiturvorbereitung konzentrieren. Nicht, dass ich von früh bis spät lerne, aber er ist eine Klette, eine stalkende Klette, obwohl er längst eine neue Freundin hat. Vielleicht ist es zu früh, um an die große Liebe zu glauben, aber ich bin überzeugt, dass es sie gibt. Wegen Leon können mir die Männer für die nächste Zeit gestohlen bleiben. Das Herzflattern darf mich irgendwann beim Studium zu einem passenderen Zeitpunkt wiederfinden, aber nicht jetzt.

Seufzend lege ich das Handy weg. Ich will nicht an Leon denken. Nicht heute. Ich gehe zum Fenster, an dem ich mit weißer Fensterfarbe eine Schneelandschaft erschaffen habe, die der draußen in nichts nachsteht, und öffne es. Tief atme ich die frische Luft ein. Der Schnee dämpft alle Geräusche. Stille Nacht im wahrsten Sinne des Wortes. Ein paar Vögel picken an der beleuchteten Futterstelle des Nachbarn ihre Körner und in der Ferne geht ein Hundebesitzer mit seinem Dackel im Schein der Straßenlaternen spazieren. Der Hund kämpft sich mit seinen kurzen Beinen durch den Schnee und bewegt sich wie der sprichwörtliche Storch im Salat. Ich schmunzle und schließe das Fenster. 

Fröstelnd reibe ich mir die Arme und drehe die Heizung weiter auf. Nahezu jeder würde mein Zimmer als wahrgewordenen Weihnachts-(Alb)-Traum beschreiben. Mit der Fernbedienung schalte ich die Weihnachtsbeleuchtung ein. Sofort funkeln überall Lichterketten auf. Auch die Dekoration auf dem zweiten Fensterbrett, Tannenzweige, Figuren und Holzelemente, beginnt zu leuchten. Die Krippe ist mein ganzer Stolz, denn ich habe alle Teile selbst gemacht. Aus Holz, Draht, Stroh und mit viel Geduld. Einen Lidschlag später leuchten die anderen Lampen. Um diese Tageszeit ist es perfekt. Summend schnappe ich mir das Feuerzeug und zünde die Kerzen des Adventskranzes an. Zusätzlich ein Teelicht in einem Duft-Stövchen. Der Winterzauber-Duft verströmt ein Aroma von Mandarine, Honig und Tonka. Herrlich! Das ist Weihnachten! Jetzt noch ein gemütlicher Abend mit meiner Familie und den richtigen Geschenken. Aber Mama und Papa haben mich noch nie enttäuscht.

Es klopft an der Zimmertür. 

»Essen ist fertig«, sagt Papa, der nur sein Gesicht in mein Zimmer steckt.

»Schon mal gehört, dass man auf das Wort ‚Herein‘ wartet, wenn man anklopft?«

»Essen ist fertig«, wiederholt er und lässt mich allein. 

Ich seufze, lösche die Kerzen und schalte die Musik ab. Frohe Weihnachten. Wo ist eigentlich meine Hochstimmung hin, die ich eben im Garten mit Emily verspürt habe? Ich fühle mich wie bei einem Saunagang. Nur schwankt es diesmal nicht zwischen warm und kalt, sondern Weihnachtsstimmung an und aus. Verdammt, es ist Heiligabend, und niemand hat mir die gute Laune zu verderben!

»Wo ist Oma?«, frage ich, als ich in die Küche trete. Der Tisch ist nur für vier Personen gedeckt, trotzdem festlich wie immer. Außerdem vermisse ich weiterhin den Duft des Bratens.

Oma lebt im Seniorenheim ein paar Straßen entfernt. Ich besuche sie, sooft ich kann, und Papa holt sie jeden Heiligabend zu uns, um gemeinsam zu feiern. Ich mag mir nicht ausmalen, wie einsam manch andere ältere Menschen, die keine Familie mehr haben, an diesen Tagen sind.

»Oma kann heute nicht dabei sein«, antwortet Mama in einem Ton, der mich stutzen lässt. Das kenne ich von Oma nicht. Ob sie krank ist? An Weihnachten? Letztes Jahr feierte sie trotz heftiger Erkältung mit uns. Sie liebt dieses Fest wie ich, und es muss schon mehr sein als ein bisschen Unwohlsein, damit sie sich diesen Tag entgehen lässt. Fragend sehe ich Papa an, aber er weicht aus.

»Umso mehr Essen für uns!«, kommentiert Lukas und reibt sich den Bauch. Seine Wangen sind leicht gerötet, als wäre er gerade erst aus dem Schnee ins Haus gekommen. »Was gibt es denn?«

»Würstchen mit Kartoffelsalat.« Mama hebt die Deckel von den Schüsseln, und mir wird schlecht. Das gab es noch nie.

»Ich hasse Kartoffelsalat«, murre ich.

»Dann sind wir ja schnell fertig und können zur Bescherung übergehen.« Auf Papas Gesicht schiebt sich ein zufriedenes Lächeln. Seit wann ist er so versessen auf die Bescherung?

»Moment, Moment!« Ich hebe die Hand, und alle verharren für den Augenblick. »Was ist los?«

»Wieso? Was soll sein?«, fragt Mama zurück, doch ich sehe, dass sie genau verstanden hat, was ich meine.

»Das alles hier! Ohne Oma. Unwürdiges Weihnachtsessen …« Ich zucke mit den Schultern und weiß nicht, wie ich es erklären soll. Most Wonderful Time Of The Year ist für mich eindeutig etwas anderes. Winterwunderland draußen hin oder her. Schnee allein macht schließlich noch kein Weihnachten.

»Wenn Oma sich nicht wohlfühlt, kann ich nichts machen. Und immer nur Wild an Weihnachten ist auf Dauer langweilig. Sei froh, dass es uns so gut geht.« Für Papa scheint das alles kein Problem zu sein. Ich schüttle ungläubig den Kopf.

»Ich finde es toll«, bekräftigt Lukas.

»Aber …«, setze ich an, doch Mama schneidet mir das Wort ab.

»Setzt euch endlich, sonst werden die Würstchen kalt! Auch für dieses Essen habe ich lange genug in der Küche gestanden. Wenn es dir nicht passt, kannst du demnächst gern mal für uns alle kochen.«

Bloß nicht! Den Rest des Abendessens schweige ich. Ich mache mir Toast zu meinen Würstchen. Währenddessen erzählt Lukas von seinem Computerspiel und Mama berichtet von dem neuesten Klatsch, den die Nachbarin beim Einkaufen erzählt hat. Warum müssen Hausfrauen immer so viel tratschen? Mir ist das alles egal. In meinem Kopf schwirren die Gedanken wie kleine Papierflieger umher. Alles fühlt sich falsch an. Was ist hier los? Geheimnisse liegen in der Luft. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es keine guten sind.

* * *

Gemeinsam betreten wir das Wohnzimmer.

Das ist der magische Moment. Die Kerzen am Tannenbaum brennen und erfüllen den Raum mit einem Duftmix aus Harz und Bienenwachs. Sanfte Instrumentalklänge ertönen, denn Papa mag die klassischen Weihnachtslieder nicht, daher haben wir uns auf diesen Kompromiss geeinigt – oder besser gesagt, er hat es vor einigen Jahren festgelegt, und wir uns gefügt.

»Wow!« Lukas kommt hinter mir ins Wohnzimmer. Ich gebe ihm recht. Dieses Jahr wirkt alles noch weihnachtlicher. Vielleicht liegt es an der Schneeschicht vor den Fenstern, die die Dunkelheit nicht ganz so finster erscheinen lässt – und so langsam kommt meine weihnachtliche Stimmung zurück. Trotz Kartoffelsalat und fehlender Oma. Der Baum steht vor der Terrassentür, sodass sich die Lichter golden in der Scheibe spiegeln. Die blauen und weißen Kugeln sind aus einer handbemalten Kollektion. Sie blitzen und blinken im Schein der Kerzen wie Sterne. Diesmal strahlt der Baum ganz ohne Lametta, was mir unglaublich gut gefällt, denn es ist dezenter und die Kugeln gewinnen an Aufmerksamkeit. Ich weiß noch genau, wie Mama und ich in dem kleinen Laden voller Weihnachtsdekoration stöberten und uns zeitgleich in die Kugeln verliebten. Es war sofort klar, dass wir sie mitnehmen würden.

Papa lässt sich mit einem tiefen Seufzer aufs Sofa fallen. Sein Hemd ist leicht verknittert und an den Fingern ist ein kaum sichtbarer Rest Druckerschwärze hängengeblieben. Wenigstens ist dieses Detail wie immer. 

»War wieder eine Druckmaschine kaputt?«, frage ich und setze mich neben ihn. Mama und Lukas befeuern den Kamin mit Holzscheiten und kleinen Anzündern, bis die Flammen züngeln und prasseln.

»Ja. Manchmal frage ich mich, wofür ich mein Personal bezahle, wenn ich mich doch um alles selbst kümmern muss.« Er schiebt sich eine Marzipankugel in den Mund und leckt sich die Finger genüsslich ab. »Mmh …«

»Warum suchst du dir keine anderen Mitarbeiter?«

»Weil das nicht so einfach ist, Leonie. Gutes Personal gibt es nicht an jeder Straßenecke.« Seufzend reibt er sich die Augen. »Wie sieht es eigentlich mit dem Lernen aus? Die Prüfungen sind doch im Frühjahr. Und du musst langsam überlegen, was du studieren möchtest. Oder vielleicht willst du ja doch eine Ausbildung bei mir machen?«

»Papa …« Ich kräusle die Stirn. Warum fängt er jetzt damit an? »Können wir heute nur über schöne Sachen sprechen? Schule und Studium gehören für mich nicht dazu.« Ich presse die Lippen aufeinander. Weiß er, dass er mir damit die Weihnachtsstimmung vermiest? Er ist so ein Grinch! Für ihn zählt nur die Karriere. Hauptsache, ich erreiche in meinem Leben etwas. Wobei das Was ihm beinahe egal ist. Mama sieht das ähnlich, doch als Hausfrau ist sie meist etwas entspannter. Manchmal ertappe ich sie, wie sie in den Stellenanzeigen der Zeitung blättert. Ob sie wieder einen Job im Büro anfängt, wenn ich ausziehe?

Im Raum wird es wärmer. Das leise Knistern des Holzes gesellt sich zu der Instrumentalmusik. Es riecht nach Lagerfeuer am lauen Sommerabend. Bevor Papa antworten kann, quetscht Lukas sich zwischen uns.

»Was geht ab?« Er grinst spitzbübisch. Boah, er will immer so cool wirken, aber diesmal rettet er mich.

»Geschenke?«, frage ich rasch, bevor irgendwer weiter über Schule, Arbeit oder sonstige unweihnachtliche Dinge reden kann. Hätte ich mal nur nicht von der Druckmaschine angefangen.

»Ja!«, ruft Lukas und klatscht Papa und mir auf die Oberschenkel.

Mama, die sich auf das andere Sofa gesetzt hat, schaut gespannt zu uns hinüber. Immer nehmen wir uns vor, nicht zu viele Geschenke zu machen, und trotzdem liegen wieder unverschämt viele Päckchen unter dem Baum. 

»Wer fängt an?« Ich sehe von einem zum anderen und tippe nervös mit der Fußspitze auf den Boden, denn die Familientradition ist, dass einer von uns einem anderen Familienmitglied ein Geschenk überreicht. Der packt es aus und überreicht dann das nächste Geschenk. So bleibt es spannend, und alle rätseln mit, was sich in dem jeweiligen Päckchen befinden könnte.

»Wartet! Dieses Jahr machen wir es anders.« Mama springt auf und baut sich vor dem Tannenbaum auf, damit sich bloß niemand an ihr vorbeischlängelt. Wie ein Wachhund steht sie da, bereit im Notfall zuzuschnappen.

Das ist die nächste Änderung an diesem Tag. Was kommt denn noch alles? Ich bin verwirrt. Fragend schaue ich von Mama zu Papa, der ein Pokerface aufgesetzt hat, und zurück. Ein geheimnisvolles Lächeln schiebt sich auf Mamas Gesicht. Was hat sie ausgeheckt? Zeit hätte sie in den letzten Wochen genug gehabt, während wir in der Schule waren.

»Warum?«, frage ich.

»Traditionen kann man ja auch mal brechen, und deshalb verteile ich heute alles.« Mama nimmt mein Geschenk für Papa, das ich super weihnachtlich mit Sternchen und Tannenzweigen dekoriert habe, und gibt es ihm.

»Von mir«, sage ich, und er lächelt mir zu.

Rasch packt er aus und drückt mich, als er seine neue externe Festplatte für den Computer in den Händen hält. »Danke schön«, sagt er und nimmt das nächste Geschenk entgegen. Von Lukas bekommt er eine CD seiner Lieblingsrockband. Warum er diese fürchterliche Musik gern hört, ist mir ein Rätsel.

Mama freut sich über die Halskette mit dem kleinen blauen Anhänger von mir und den Föhn von Lukas. »Danke, ihr beiden!« Sie umarmt uns nacheinander.

In mir steigt die Vorfreude auf meine Geschenke. Ich schiele auf die Päckchen, die noch unter dem Baum liegen. Meine Wunschliste war lang, und ich habe keine Ahnung, was ich bekomme. Falls ich ein neues Handy bekäme, wäre ich das glücklichste Mädchen auf Erden. Gute Social-Media-Pics benötigen das beste Equipment, und das bietet mein altes Handy definitiv nicht. Aber ich habe mir auch eine richtig teure Kamera gewünscht.

Lukas zappelt und schlenkert mit den Beinen umher. Noch nie haben Mama und Papa uns so auf die Folter gespannt wie in diesem Jahr.

»Jetzt wir!«, verlangt Lukas, als hätte er meine Gedanken gelesen. Die Spannung ist greifbar. Nur das Feuer im Kamin knistert weiter, und die instrumentalen Klänge steuern passend im Crescendo auf den Höhepunkt zu.

»Nun, dann wollen wir mal …« Mama schleicht um den Baum herum. Sie schaut akribisch auf die Schilder der Päckchen. Dann dreht sie sich um und hebt die Hände. »Tut mir leid, aber für euch ist nichts dabei!«

»Ihr wart scheinbar nicht artig genug«, fügt Papa rasch hinzu. Seine Augen blitzen amüsiert.

Entgeistert starre ich die beiden an. Die veräppeln uns doch. »Und für wen sind die Päckchen dann?« Ich verschränke die Arme vor der Brust. Was für blöde Spielchen.

»Für niemanden. Die sind leer«, antwortet Mama.

Das Schweigen legt sich wie ein Tuch über uns. In Lukas Gesicht prangt das nackte Entsetzen, während unsere Eltern unauffällig dreinschauen. Zu unauffällig.

»Vielleicht ist das hier ja was für euch?«

Ich höre die Aufregung in Mamas Stimme, als sie uns mit leicht zitternden Fingern ein weißes, unscheinbares Kuvert hinhält. Lukas schnappt es und reißt es auf.

Das ist eindeutig kein Handy. Und auch kein Gutschein für eine Kamera. Ein neues Spiel zum Zocken für Lukas sieht ebenfalls anders aus. Alles, was ich sehe, ist ein weiterer, mit Palmen bedruckter Umschlag.

Lukas schaut genauso fragend in die Runde wie ich. »Was ist das?«, fragt er enttäuscht und ohne echte Neugier. 

»Ihr Lieben, hört mal zu«, beginnt Papa. »Wir haben uns überlegt, dass wir dieses Jahr etwas ganz Besonderes mit euch machen möchten. Das Jahr war für uns alle anstrengend, und du, Leonie, machst bald dein Abitur. Wer weiß, wohin es dich zum Studieren verschlägt.« Er macht eine Pause und schaut zu Mama. Die nickt und räuspert sich, bevor sie das Wort übernimmt.

»Bevor du irgendwo anders hinziehst, möchten wir mit euch gemeinsam einen besonderen Urlaub machen. Wir sind uns sicher, dass es euch gefallen wird.«

»Wo gehts hin?«, murre ich. Will ich die Antwort überhaupt wissen? Familienurlaub ist das Letzte, was ich mir gewünscht habe. Scheinbar geht es Ostern dieses Mal nicht wie üblich nach Mallorca. Schade, denn ich mag das Ferienhaus mit Meerblick.

»Fliegen wir nach Amerika?«, fragt Lukas. Seit sein bester Kumpel im Sommer in New York war, kennt er kein anderes Ziel.

»Wir machen eine Kreuzfahrt!«, platzt es aus Papa heraus. 

»Kreuzfahrt?«, frage ich perplex.

»Ja! Wir fahren in die Karibik.« Mama zieht einen Strohhut hinter dem Sofa hervor und setzt ihn auf. »Oh wie schön ist Panama!«

»Karibik ist aber nicht USA, oder?«

»Nein, du Vollpfosten! Die Karibik ist weiter südlich.« Ich habe genug gehört. In meinem Bauch schwelt die Wut zu der Größe einer Bowlingkugel heran. »Das heißt, dass Weihnachten damit vorbei ist? Ohne vernünftige Geschenke?«

»Immer mit der Ruhe, Leonie! Freust du dich denn nicht ein kleines bisschen über einen gemeinsamen Urlaub?«

Ich sehe Mama entgeistert an. »Ganz ehrlich? Ne Kamera oder nen Handy wären mir lieber gewesen. Und urlaubsmäßig wäre Mallorca okay.«

»Wer redet denn davon, dass Mallorca an Ostern ausfällt?« Papa schüttelt den Kopf. »Unsere Kreuzfahrt startet morgen. Zehn Tage Sonne und Karibik. Und es ist ein rein deutsches Schiff. Was meint ihr, warum ich heute so lange gearbeitet habe? Also kein Trübsal blasen, sondern ab mit euch! Kofferpacken steht an!«

»Morgen? Warum schon morgen? Ganz sicher nicht!« Gerade jetzt, wo draußen das schönste Winterwunderland ist, soll ich in die Sonne fliegen? Ich stemme die Hände in die Hüften, doch Papa ignoriert mich. Er erhebt sich und küsst Mama leidenschaftlich, während ich fluchend aus dem Wohnzimmer in mein Zimmer stürze, um meine Tränen zu verbergen.

Morgen?

Kreuzfahrt in der Karibik?

Sommer im Winter? 

Ernsthaft?

Das können die sich abschminken!

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An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass „Cruise To You“ potentiell triggernde Themen enthält. Diese sind: Rassismus, Liebeskummer, Fremdgehen, körperliche Gewalt. Bitte achte auf dich.