
Das erste Mal allein verreisen?
Als die siebzehnjährige Emily ihren Urlaub nach Malta antritt, ahnt sie nicht, dass diese zwei Wochen ihr Leben verändern werden. Sprachschule, die Unterkunft bei der Gastmutter, neue Freunde, Ausflüge über die Insel, ein Tauchkurs … Wäre da nur nicht ihre Schüchternheit, durch die sie in unangenehmen Situationen keine Worte findet. Doch wenn sie die Englisch-Prüfung für die Uni schaffen will, muss sie in diesem Urlaub über ihren Schatten springen – und darf sich nicht von Bent ablenken lassen. Ihr Vorsatz, sich von Männern fernzuhalten, gerät gehörig ins Wanken.
„Romantisch. Bewegend. Authentisch.“
Chiara, Leserin.
„Mit charmant gezeichneten Charakteren und einer sommerlich leichten Sprache nahm mich Sarah nicht nur mit auf die Reise über eine bezaubernde Insel, sondern ließ auch die Schmetterlinge der ersten großen Liebe wieder in mir aufsteigen.„
Ilka, Leserin
„Es ist lange her, dass ich einen Buchcharakter so gehasst habe …“
Sabrina, Leserin, über den Antagonisten im Buch
Leseprobe:
»Was?«, rufe ich gegen die Musik an. Majas Lippen bewegen sich, ich verstehe jedoch kein Wort. Mit der Hand deute ich auf mein Ohr und zucke dann mit den Schultern. Ob sie die Geste kapiert? Sean Pauls Dynamite dröhnt ohrenbetäubend aus den Boxen und die Scheinwerfer flackern von links nach rechts. Bunte Lichter, blitzendes Stroboskop und finstere Ecken beherrschen den Raum.
Der Club ist brechend voll. Ich zucke zusammen. Zum wiederholten Mal boxt mir jemand mit dem Ellenbogen in den Rücken. Genervt verdrehe ich die Augen. Hier auf der Tanzfläche sind inzwischen alle Hemmungen gefallen. Das Partyvolk feiert, wiegt sich mehr oder weniger passend im Takt der Musik und die alkoholischen Getränke fließen in Strömen. Alle grölen die bekannten Lieder mit. Alle, außer mir.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, mit Maja loszuziehen? Aber meine Cousine hat so lang gebettelt, bis ich ihr den Wunsch nicht mehr abschlagen konnte. Was ist so schlimm daran, einmal in die Disco zu gehen?
Doch die wichtigste Frage von allen ist: Warum stehe ich hier auf der Tanzfläche? Ich! Die mit rhythmischen Bewegungen per se auf dem Kriegsfuß steht. Und nun bin ich mitten im Hamburger Nachtleben. Um mich herum hauptsächlich Studenten, die die vorlesungsfreie Zeit genießen. Kein Wunder, denn schon bald startet das neue Semester. Auch ich starte in einen neuen Lebensabschnitt.
Majas Lippen bewegen sich erneut, doch wieder verstehe ich nur zusammenhanglose Silben, auf die ich mir keinen Reim machen kann. »Lass uns in eine ruhige Ecke gehen!«, brülle ich gegen die Lautstärke an und gestikuliere übertrieben in Richtung der Bar. Hoffentlich ist es dort leiser. Außerdem ist meine Kehle staubtrocken. Ich brauche dringend etwas zu trinken.
Als Maja nicht reagiert, greife ich ihre Hand und ziehe sie hinter mir her. Ich weiß, dass sie für ihr Leben gern tanzt und sicher nicht mit mir in einer Ecke stehen will. Ich wäre auch mit einem Filmabend zufrieden gewesen.
Der Weg von der Tanzfläche zur Bar gestaltet sich schwierig, denn die tanzende Menge ist beinahe unmöglich zu durchqueren. Ständig stehe ich vor jemandem, der mich nicht vorbeilässt und noch öfter knufft ein Ellenbogen mir in die Seite oder gegen die Arme. Wie durch zähen Schleim kämpfe ich mich voran und setze irgendwann selbst den Ellenbogen ein.
Ich atme erleichtert auf, als wir endlich eine Ecke erreichen, in der der Bass nicht dröhnt und man sein eigenes Wort versteht. Neben der Bar ist es deutlich leerer. Nahezu alle tummeln sich auf der Tanzfläche. Lediglich ein paar kleinere Grüppchen stehen mit ihren Getränken beisammen und einzelne Personen schauen suchend umher.
»Was wolltest du von mir?«, frage ich nah an Majas Ohr.
Sie zuckt zurück. »Boah, Emily! Schrei doch nicht so.« Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen reibt sie sich das Ohr, als hätte ich ihr soeben einen Schlag darauf verpasst. »Ich hab gesagt, dass du so konzentriert aussiehst. Ist alles okay bei dir?«
Tatsächlich können wir uns normal unterhalten, doch in meinen Ohren klingt jeder Ton dumpf. Ich habe keine Ahnung, wie laut ich gesprochen habe. Warum muss man die Lautstärke so weit aufdrehen? Kopfschmerzen kündigen sich pochend in meinen Schläfen an.
»Jaaaaa …«, entgegne ich lahm. »Alles okay. Nur das Tanzen ist einfach nicht so meins.«
»Aber dabei muss man sich doch nicht konzentrieren. Einfach nur im Takt ein bisschen abzappeln. Es interessiert niemanden, ob du das gut machst. Du fällst eher auf, wenn du stocksteif dastehst und deine Bewegungen so mechanisch wie von einem Roboter sind.« Um ihre Ausführungen zu unterstreichen, wiegt sie ihre Hüften mühelos im Takt zu einem mir unbekannten Lied, das der DJ aufgelegt hat. Offensichtlich ist es ein beliebtes, denn die Menge auf der Tanzfläche grölt mit, als während des Refrains kurz der Ton leiser gedreht wird.
»Ja, es ist nur einfach nicht meine Musik.« Die Ausrede ist lahm, aber sie entspricht der Wahrheit. Partys waren bisher kein Thema für mich, außer wenn Mama und Papa mich auf eine Hochzeit oder den runden Geburtstag eines Verwandten mitgenommen haben.
Maja hebt kurz den Finger und bedeutet mir, zu warten. Sie ist das, was man ein klassisches Dorfkind nennt. Scheunenpartys und die Treffen der Landjugend sind ihr wichtig. Das hat sie mir direkt bei ihrer Ankunft gesteckt. Jetzt macht sie ein paar Tage Urlaub bei uns in der Großstadt, weil ihre Eltern – sie ist die Tochter von Papas Bruder – ein entspanntes Wellnesswochenende machen und Maja keine Lust hatte, allein zu Hause zu bleiben. Wobei sie das mit ihren neunzehn Jahren garantiert öfter tut. Seit ihrer Ankunft nagt die Frage an mir, ob es normal ist, dass ich Großstadtkind so viel behüteter aufgewachsen bin als sie – und das nicht nur wegen ihres Piercings in der Nase oder dem Tattoo auf dem Unterarm.
»Hier, trink das!« Maja hält mir ein schlankes Glas entgegen.
Ich schnuppere daran und verziehe das Gesicht. Ekelig zuckerig! »Was ist das?«
»Etwas, das dich ein bisschen lockerer macht. Du sollst Spaß haben!«
Ich soll lockerer werden? Okay, dass ich nicht die Partyqueen schlechthin bin, ist mir klar. Aber ist es wirklich so auffällig? »Ist da Alkohol drin?«
»Trink!« Maja verdreht die Augen, klirrt ihr Glas an meins und stürzt die Flüssigkeit ihre Kehle hinunter.
Zeitgleich wird ein neues Lied angekündigt und sie stößt einen spitzen Schrei aus. Ein paar der Umstehenden drehen sich zu uns um. Maja stellt das Glas so impulsiv auf den Tresen zurück, dass es taumelnd einige Zentimeter rutscht und nur deshalb nicht auf der anderen Seite hinunterfällt, weil der Barkeeper es geschickt auffängt. Sie beachtet ihn nicht, sondern schaut mich auffordernd an und ist in der nächsten Sekunde zwischen den Menschen auf der Tanzfläche verschwunden.
Kopfschüttelnd schaue ich ihr hinterher. Wo nimmt sie die Energie her? Ich atme tief durch. Hat sie recht und ich muss nur einen Tick lockerer werden? Könnte ich mich dann an die Musik gewöhnen? Nein. Ein Konzert von Dragonnight wäre mir lieber. Die habe ich letztens live gesehen. Gott, was war das großartig! So habe ich noch nie bei Songs mitgegrölt. Definitiv besser als diese Partys mitten in der Nacht.
Langsam setze ich das Glas an meine Lippen und nippe an dem Getränk. Bäh. Flüssige Gummibärchen. Es ist eindeutig ein Energy-Drink beigemischt. Außerdem schmecke ich – wie befürchtet – Alkohol. Ich meide dieses Zeug, seitdem ich mich beim Trinken einmal bravourös überschätzt habe. Außerdem ist zu viel Fusel ungesund und gefährlich. Aber was solls. Es ist nur ein Drink und der macht mich ja nicht direkt sturzbesoffen. Danach trinke ich Cola. Ich leere das Glas in einem Zug und stelle es zurück auf den Tresen. Kurz wird mir schwindelig. Doch ob es an dem Alkohol, den hohen Stilettos oder der verbrauchten Luft im Club liegt, vermag ich nicht zu sagen. Der Moment ist flugs vorbei.
Maja ist irgendwo auf der Tanzfläche im Getümmel. Ob ich sie suchen soll? In mir sträubt sich alles dagegen, mich wieder zwischen die verschwitzten und sich eng hin und her wiegenden Partyleute zu begeben. Vielleicht warte ich lieber, bis Maja zurückkommt? Die Tanzfläche ist riesig. Sie könnte überall sein. Ja, so mache ich es. So brauche ich nicht tanzen und niemand schaut mich komisch an.
»Hey, schöne Frau!«
Ich zucke zusammen. Die raue Stimme erklingt direkt neben meinem Ohr, begleitet von einer Dunstwolke aus billigem Aftershave und Alkohol.
Schöne Frau? Okay, ich bin siebzehn, aber so hat mich bisher niemand genannt. Langsam drehe ich den Kopf und schaue auf ein graues Hemd. Mein Blick wandert weiter nach oben. Himmel, ist dieser Kerl ein Riese! Er überragt mich sicher um zwei Köpfe und sein Kreuz ist breit wie ein Schrank. Das Hemd sitzt locker, dennoch erkenne ich, dass er öfter Hanteln stemmt. Er ist garantiert genauso ein Gymkie wie Deonte, der Freund meiner besten Freundin Leonie. Die zwei, die mich vor ein paar Tagen im Stich gelassen haben und ihr Glück beim Studium in Bremen suchen. Bereits jetzt haben sie einen Krater in meinem Leben hinterlassen. »Äh, hi!« Ich hebe zögerlich eine Hand.
»Trinkst du was mit mir?« Er hält mir ein Glas hin, das genauso aussieht, wie das, das Maja mir vorhin gegeben hat. Ist es denn so schwer zu verstehen, dass eine Cola okay wäre?
»Äh, danke. Aber ich warte nur auf meine Cousine.«
»Das Lied geht in der Dance-Version über zehn Minuten. So schnell siehst du die nicht wieder. Aber ich verkürze dir gern die Wartezeit.«
Ein flüchtiger Blick auf sein amüsiertes Gesicht lässt meinen Widerstand bröckeln. Das hat er mit Absicht so abgepasst. Ich unterdrücke ein Seufzen. Na klasse. Wahrscheinlich kann man in mir lesen, wie in einem offenen Buch. Ich hätte doch Maja hinterherlaufen sollen. »Hmm …«, gebe ich unbestimmt von mir und verfluche, dass es hier in der Ecke nicht so laut ist wie auf der Tanzfläche. Dann hätte ich wenigstens so tun können, als würde ich ihn nicht verstehen. Andererseits scheint er okay zu sein. Ehe ich mich versehe, schließen sich meine Finger um ein neues Glas.
»Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du neu in der Stadt?«
Ich schüttle den Kopf.
»John«, sagt er dann und streckt mir seine Hand hin.
»Emily«, entgegne ich zögernd, ergreife seine Hand aber nicht. Ich schlucke, mein Hals ist wieder staubtrocken. Die ganze Situation ist mir unangenehm. Meine Finger klammern sich an das Glas. Warum kommt Maja nicht zurück? Mein Blick huscht hin und her, doch ich entdecke sie nirgends. Rasch hebe ich den Drink und leere ihn in drei Schlucken. Diesmal ist die Mischung intensiver. Mehr Alkohol, weniger flüssige Gummibärchen. Ein flüchtiges Brennen in der Kehle unterstreicht diese Feststellung. Ich huste. Sofort liegt Johns Hand auf meinem Rücken und klopft dagegen. Ob das sein richtiger Name ist?
»Da ist ein Sitzplatz freigeworden.«
Ich folge seinem ausgestreckten Finger. Tatsächlich ist einer der runden Tische frei. Wenn ich ehrlich bin, bringen mich meine Stilettos bald um. Auch das ist auf Majas Mist gewachsen. Sie hat das Outfit ausgesucht, damit ich nicht das Mauerblümchen bin. Tss. Plötzlich fühle ich mich unbehaglich in dem eng anliegenden schwarzen Kleid. Das ist ein Styling, das besser zu Leonie passt. Aber zu mir? Ich unterdrücke erneut ein Seufzen und aus irgendeinem aberwitzigen Grund nickt mein Kopf.
Wie in Trance bekomme ich mit, wie John mein Handgelenk ergreift und ich im nächsten Moment neben ihm auf der Bank sitze. Waren die Scheinwerfer der Tanzfläche vorhin auch schon so grell? Kurz schließe ich die Augen und atme tief durch.
»Du bist hübsch«, raunt er mir ins Ohr.
Meine Finger verkrampfen sich um das leere Glas. Das alles kommt mir falsch vor. Mir ist schwummrig. Ist es der Alkohol? So schnell? »Ich glaube, ich gehe jetzt besser zu Maja. Sie sucht mich bestimmt schon.« Gut. Das wird er verstehen. Unbeholfen versuche ich aufzustehen, doch seine Hand hält mich fest.
»Wir sind doch nur ein paar Schritte von eurem Treffpunkt weg. Ich habe alles im Blick und sage dir Bescheid, wenn sie kommt.« Sein Griff ist forsch. »Ich möchte dich doch noch etwas kennenlernen.«
Will ich das denn ebenfalls? Aber ein klares Nein habe ich bislang auch nicht verlauten lassen. Mamma mia. Am liebsten hätte ich mir mit der Hand vor den Kopf geschlagen, als mir klar wird, dass er mit mir flirtet. Ausgerechnet mit mir und ich habe keine Ahnung, wie das geht. Was antwortet man darauf?
Mein Blick huscht erneut umher und bleibt an seinen Unterarmen kleben. Die Ärmel des Hemdes hat er über die Ellenbogen hochgeschoben. Seine Muskeln sind erstaunlich definiert. Ich schlucke. Dann hebe ich den Blick weiter, mustere sein Gesicht. Er ist eindeutig älter als ich. Mindestens fünfundzwanzig. Mit seinen schwarzen gestylten Haaren, den vollen Lippen und den winzigen Fältchen um seine Augen sieht er annehmbar aus. Das kann ich nicht leugnen. Aber er ist eher der Typ Türsteher, um den ich normalerweise einen weiten Bogen mache. Wobei – ich mache um alle Typen einen Bogen.
Ich erstarre, als er seine zweite Hand in meinen Nacken legt und die Finger mit hauchzarten Bewegungen über die Haut kreisen lässt. Erst langsam, dann fordernder. Noch immer bringe ich kein Wort über die Lippen, überlege fieberhaft, was ich sagen könnte. Alles in mir schreit Nein. Er ist zwar nett, aber ich fühle mich bei ihm nicht wohl. Mein Herz wummert in der Brust und ich fixiere einen Punkt auf dem Boden. Ich bin inmitten von Menschen, doch niemand nimmt Notiz von mir. Ich höre ihr Lachen und die Musik wie ein entferntes Rauschen. Meine Brust wird eng, ich bekomme keine Luft. John sagt etwas zu mir. Ich verstehe es nicht. Paralysiert von seinen Berührungen atme ich abgehackt. Das muss aufhören. Ich will das nicht. »Nein«, kommt es über meine Lippen. Es ist nur ein Hauchen.
»Was nein?« John schaut mich verwirrt an und endlich finde ich die Kraft, ein Stück von ihm wegzurutschen.
»Nein. Ich möchte das nicht.« Meine Stimme zittert. Die Worte verlassen zu laut und heftig den Mund. Zumindest fühlt es sich so an. In Wahrheit ist es wieder nicht mehr als ein Flüstern und doch hat er mich verstanden.
John rutscht mir hinterher, legt eine Hand auf meinen Oberschenkel. Entgeistert starre ich ihn an.
»Ich habe Nein gesagt.« Gut so. Das war besser. Langsam klaren die Wolken in meinem Kopf auf.
»Nun hab dich doch nicht so. Ich wollte nur nett zu dir sein.« Seine Stimme ist sanft und zugleich enttäuscht. Oder interpretiere ich es lediglich so?
»Danke für den Drink, aber ich gehe jetzt zu Maja.« Mit einer fahrigen Bewegung stehe ich auf, verliere mein Gleichgewicht, weil ich die wahnwitzig hohen Stilettos vergessen habe. Nur dem reflexartigen Festhalten von John habe ich es zu verdanken, dass ich nicht der Länge nach auf dem Boden aufschlage.
Als wäre seine Berührung aus Feuer, ziehe ich meine Hand ruckartig weg, funkle ihn an und rücke mir das Kleid zurecht. Rasch bringe ich einen Meter Sicherheitsabstand zwischen uns. Er ist ebenfalls aufgestanden und seine Größe flößt mir einen Heidenrespekt ein. Mit einer raubtierhaft geschmeidigen Bewegung schließt er zu mir auf und hält mich am Arm fest. Ich zittere.
»Hey, sie hat Nein gesagt, du Arsch!«
Mein Kopf ruckt zu dem Kerl herum, der sich uns nähert.
Sofort lässt John mich los.
»Schon okay, Kumpel. Hier ist nichts passiert.« John winkt dem anderen besänftigend zu, der uns jedoch weiter im Auge behält, und lehnt sich zu mir. Nah an meinem Ohr hält er inne. Seine Stimme ist ein sanftes, drohendes Säuseln. »Du Flittchen, erst einladend mit dem Hintern wackeln und …«
Was er danach sagt, höre nicht mehr. Endlich habe ich den Schalter in meinem Gehirn umgelegt. Flucht. Jetzt oder nie. So schnell meine Füße mich in den Stilettos vorwärts tragen, hetze ich auf die Tanzfläche. Zum Glück entdecke ich Maja rasch und schlängle mich durch die sich im Takt wiegende Menge zu ihr. Ohne Rücksicht landen meine Ellenbogen dabei in irgendwelchen anderen Körpern. Entweder interessiert es niemanden oder ich höre den Protest aufgrund der Musik nicht. Mein Atem rast, doch setze ich ein Lächeln auf. Es fühlt sich falsch an.
Maja bemerkt mich nicht. Die Hände zur Decke gereckt, die Augen geschlossen schaukelt sie zur Musik.
Das Stück ist jetzt langsamer als zuvor, der Beat ist dennoch klar zu erkennen. Aber das hilft mir nicht, mich in den Takt einzufinden. Meine Beine sind wie Pudding. Ich stupse Maja an. Einmal, zweimal. Als sie nicht reagiert, ruckle ich an ihrer Schulter. Sie reißt die Augen auf, und ich sehe, dass sie zu einer rüden Erwiderung ansetzen will. Dann erkennt sie mich.
Ich brülle gegen die Musik an, doch wieder versteht sie mich nicht. Also greife ich kurz entschlossen ihre Hand und zerre sie Richtung Ausgang.
»Hey! Was ist denn los?« Mit einem energischen Ruck bleibt Maja stehen.
»Ich will nach Hause.«
Majas Gesichtsausdruck wechselt von verärgert zu besorgt. »Warum? Ist was passiert?«
»Ich will einfach nach Hause, okay?« Ich kann ihr nicht erklären, was passiert ist. Weil ja gar nichts geschehen ist. Ein Kerl hat mich angeflirtet und ich habe Nein gesagt. Mehr nicht. Meine Finger zittern, strafen mich Lügen. John hätte nicht aufgehört, wenn der andere Mann nicht dazwischengegangen wäre, oder?
Maja zögert kurz und mustert mich. Irgendetwas scheint sie in meinen Augen zu erkennen, denn sie nickt. »Dann los.«
Ich atme erleichtert auf, als die laue Nachtluft durch meine Haare weht. Es ist ein befreiendes Gefühl und langsam löst sich die Enge im Brustkorb.
Den größten Teil des Rückwegs zur U-Bahn verbringen wir schweigend, und ich versuche, das grölende Partyvolk auf der Reeperbahn zu ignorieren. Rechts von mir kotzt ein junger Kerl auf den Boden. Angewidert schaue ich weg, doch der Geruch dringt trotzdem in meine Nase. Bah. Das ist einer der Gründe, warum ich keinen Alkohol trinke. Der Anblick eines Obdachlosen ohne Zähne, der mir kommentarlos ein Schälchen mit fünf Münzen hinhält, löst ein noch stärkeres Ekelgefühl in mir aus. Bestimmt kann er nichts für seine Situation, dennoch hoffe ich, dass er es bald wieder besser hat. Eine Gruppe Frauen in Achtzigerjahre-Kostümen kommt uns entgegen. Ein Junggesellinnenabschied. Ich schüttle den Kopf. Dieser Ort bietet alles, und doch sind diejenigen, die in der Masse untergehen, in der Überzahl. Das ist es, was mich beruhigt.
Die Reeperbahn ist ein Ort, der mich nie gereizt hat, schon gar nicht in einer lauen Samstagnacht. Doch Maja plappert munter vor sich hin und lenkt mich von allem ab. Über Jungs, ihr bald startendes Studium – ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber freue, dass sie ebenfalls Englisch und Biologie auf Lehramt an derselben Uni wie ich studieren wird – und das Dorfleben. Warum musste sie unbedingt ihre Ausbildung abbrechen und sich an der Uni einschreiben? Für sie ist Hamburg ein einziges Abenteuer und ich bin mir sicher, dass sie im Studentenwohnheim im Handumdrehen Anschluss finden wird. Ich hingegen werde weiterhin bei meinen Eltern zu Hause wohnen. Die vorläufige Zulassung zum Studium habe ich in der Tasche. Nur eine Hürde muss ich noch bezwingen: Da ich Englisch nicht als Leistungskurs hatte, brauche ich einen Sprachnachweis. Den Termin für die Prüfung habe ich ebenfalls. Die muss ich nur bestehen – also noch mal extra viel büffeln, zwei Wochen Intensivkurs –, dann steht dem Studium nichts mehr im Weg. Doch all das ist gerade nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass wir ohne Zwischenfälle nach Hause kommen.
Ich würde mich am liebsten wegbeamen. Doch der Fußweg zur U-Bahn bleibt mir nicht erspart. Gott, die Stilettos bringen mich um. Mein Blick streift weitere Obdachlose, die sich zuprosten. Rasch schaue ich nach vorn. Zum Glück sind wir fast am Bahnsteig und die Bahn ist angekündigt.
»Hey Emily! Hörst du mir überhaupt zu?«
»Jaja«, murmele ich. »Hast du was gefragt?«
»Geht es dir wieder besser?«
»Klar doch. Mir war nur ein bisschen übel.« Ich betrete hinter ihr die gerade eingefahrene Bahn.
Maja lacht auf. »Du bist einfach nichts gewöhnt. Sobald das Semester losgeht, gehen wir regelmäßig auf Studentenpartys. Das wird gut und so lernen wir Leute kennen. Weißt du, bei meiner ersten Besichtigung im Wohnheim habe ich schon von vielen Partys gehört. Das wird mega!«
Ich verdrehe genervt die Augen. »Ja, wird’s bestimmt.« Doch meine Stimme ist nicht überzeugend.
Als wir endlich zu Hause ankommen, ist alles still. Mama und Papa sind längst im Bett. Maja verabschiedet sich zu meiner Erleichterung rasch ins Gästezimmer. Ich gehe in mein Zimmer und streife mir die Stilettos von den Füßen ab. Was für eine Wohltat. Das Schlaf-T-Shirt angezogen schlüpfe ich ins Bett unter die Decke. Ich gähne, doch meine Gedanken kreisen wie in einer Spirale um John und seine Berührungen. Es ist, als würden seine Finger noch immer über meinen Nacken streifen. Ein kalter Schauder überkommt mich. Es ist nichts passiert. Alles ist gut. Er wollte nett sein und ich hätte von vornherein deutlicher sagen müssen, dass ich das nicht will. Aber er hätte merken können, dass ich mich nicht wohlfühle, oder? Ach! Das ist so kompliziert! Ich müsste selbstbewusster sein, doch ohne Leonie fällt mir das schwer. Meine Gedanken kreisen weiter und es dauert, bis ich endlich in einen albtraumdurchsetzten Schlaf drifte.
***
Als ich am nächsten Morgen erwache, ist meine Zunge pelzig. Schlaftrunken wälze ich mich auf die andere Seite und ziehe die dünne Decke ein Stückchen höher. Ohne Bettdecke kann ich nicht einschlafen – selbst im Sommer nicht. Ich gähne. Es ist wieder einer dieser Morgen, an denen man sich fragt, warum man so lang aufgeblieben ist. Behutsam öffne ich das linke Auge. Durch die Schlitze der Jalousie blitzen die ersten Sonnenstrahlen. Nein, nicht die ersten. Die Sonne ist eindeutig nicht so eine Schlafmütze wie ich. Mein Blick fällt auf den Wecker. Die roten Zahlen erinnern mich daran, welcher Tag ist. Sonntag. 11 Uhr. Mit einem Schlag bin ich hellwach. Heute ist DER Sonntag! Abreisetag!
Ich schiebe die Bettdecke zurück, schwinge die Beine aus dem Bett und halte inne. Meine Finger krallen sich in die Matratze. Der Raum kippt vor den Augen zur Seite weg und ich schließe die Lider. Stöhnend reibe ich mir die Schläfen. Nie wieder Alkohol! Dabei waren es doch nur diese zwei Drinks. Aber wenn man sonst absolut nichts trinkt und eine vernünftige Grundlage fehlt, ist selbst das zu viel. Ich hoffe, dass mir das beim nächsten Mal einfällt, bevor ich etwas trinke. Nein, ich werde Alkohol grundsätzlich meiden.
Ich stütze mich rechts und links auf der Matratze ab, während sich meine Zehen in den Flokati Teppich krallen. Einatmen und ausatmen. Der Anflug von Übelkeit und Schwindel verflüchtigt sich, doch der unangenehme Geschmack im Mund bleibt. Mit einem zischenden Geräusch schraube ich die Wasserflasche auf, die neben dem Bett steht. Mit gierigen Schlucken stürze ich den Inhalt hinunter. Wieso bin ich so durstig?
Mein Blick fällt auf den halb gepackten Koffer. Der Rest des Hauses scheint längst auf den Beinen zu sein, denn ich höre Papa im Flur leise mit Mama sprechen. Papa ist der Frühaufsteher der Familie. Gut, dass ich keine Partyqueen bin. Von meinen Mitschülern habe ich mehrfach gehört, dass sie erst nach Hause kommen, wenn ihre Eltern wieder aufgestanden sind. Oder ihre Eltern sie sogar nachts aus der Disco abholen.
Ich schüttle den Kopf und bereue es sofort. Okay. Ich habe eindeutig einen Kater. Was finden andere nur daran?
Ein zögerliches Klopfen holt mich aus meinen Gedanken. »Ja?«
Papa streckt den Kopf zur Tür hinein. »Ah, du bist schon wach. Guten Morgen.«
»Moin«, murmle ich. »Schon ist gut.«
»Wie war es denn? Maja plappert wie ein Wasserfall.«
In seinem Gesicht lese ich einen Anflug von Gereiztheit. Ja, Maja findet oftmals weder Punkt noch Komma. Bilder von letzter Nacht schießen mir durch den Kopf. Die volle Tanzfläche, die Drinks, die kraulenden Finger von John. Ein Schauder läuft mir den Rücken hinab und meine Schultern zucken, ohne dass ich es verhindern kann. »Ja, war ganz okay.« Mehr muss ich nicht sagen. Papa weiß, dass ich lieber zu Hause bleibe und die Nacht zum Schlafen nutze.
»Denk dran, dass wir pünktlich zum Flughafen müssen. Du willst den Flug ja nicht verpassen. Hast du schon fertig gepackt?«
Ich schüttle den Kopf und schließe kurz die Augen, als das Bild wieder unscharf wird. »Muss ich gleich noch machen. Gib mir ein paar Minuten, bis ich richtig wach bin.«
Er nickt mir wissend zu und schließt die Tür.
Ich starre für einen Moment auf den halb gepackten Koffer und bin lost. Was habe ich mir dabei gedacht? Warum muss ich ausgerechnet jetzt zum ersten Mal in die Disco und zusätzlich allein in den Urlaub? Ich war nie das mutige Mädchen. Ja, mit Leonie zusammen habe ich viel Blödsinn angestellt. Vor allem, wenn man an unsere legendären Schneeballschlachten denkt. Oder an die Streiche, die wir Lukas, ihrem jüngeren Bruder, gespielt haben. Aber inzwischen bin ich siebzehn und, wie Papa sagt, fast erwachsen. Bald beginnt das Studium und ich habe einen unglaublichen Respekt vor dem, was auf mich zukommt. Mein Magen grummelt und die Übelkeit kehrt zurück. Keine Ahnung, warum sich alle auf diesen Lebensabschnitt freuen. Für mich heißt es, dass ich aus der Komfortzone raus muss. Wenn ich dafür in eine andere Stadt ziehen müsste, hätte mich spätestens jetzt der Mut verlassen. Keine Ahnung, wie Leonie und Deonte es in Bremen aushalten. Aber die beiden haben sich ja wenigstens gegenseitig. Ich hingegen bin allein. Alleingelassen von meiner besten Freundin, mit der ich durch dick und dünn gegangen bin.
Ich sollte mich auf das Studium freuen. Endlich kann ich etwas lernen, was mich interessiert. Bestimmt gibt es dort nette Menschen und ich finde neue Freunde. Aber will ich das? Schließlich kann ich mit Leonie texten. Warum ist das Leben so kompliziert? Neue Wege und Abschnitte bieten viele Chancen. Eigentlich. Was ist, wenn mich niemand mag? Was ist, wenn ich den richtigen Hörsaal nicht finde? Und was ist, wenn ich nichts kapiere?
Ein Ping reißt mich aus den Gedanken. Automatisch greife ich nach meinem Handy und öffne die App.
Leonie: Heute gehts los!!!
Ich starre auf die Nachricht. Das ist typisch. Seit sie unfreiwillig die vergangenen Weihnachtsferien auf dem Schiff Pluto in der Karibik verbracht und dort ihren Freund Deonte kennengelernt hat, schwärmt sie vom Reisen. Sie ist in dem letzten halben Jahr eindeutig erwachsen geworden. Ich tippe ein paar Buchstaben ein, lösche sie wieder, tippe erneut und sende die Nachricht ab.
Ich: Jaaa
Leonie: Das klingt nicht begeistert. Ich dachte, du freust dich?
Sie kennt mich. Tja. Freue ich mich? Bis gestern war ich davon überzeugt. Zwei Wochen Sprachurlaub auf Malta liegen vor mir. Vierzehn Tage Intensivkurs, um mich auf die Prüfung für den Cambridge English: Advanced-Test vorzubereiten. Und das nur, weil meine Abinote nicht ausgereicht hat. Ein blöder Punkt. Nun denn. Zum Glück gibt es die Möglichkeit, diesen Nachweis bis spätestens zum Ende des ersten Semesters zu erbringen. Dumm nur, dass ich in diesem Test die höchste Stufe erreichen muss. Ob ich das schaffe? Ich war nie ein Prüfungsmensch und das Abi hat das definitiv bestätigt. Wenn es darauf ankommt, klappt nichts. Ich seufze.
Eigentlich ist diese ganze Aktion aberwitzig. Als ob zwei Wochen das aufholen, was ich in den vergangenen Jahren verpasst habe. Aber Papa hat gesagt, dass man meine Kenntnisse nur hervorkitzeln müsste. Sie schlummern in mir. Ich lache trocken auf. Papa und seine Weisheiten.
Ich: Klar freue ich mich.
Leonie: Aber?
Ich: Nichts aber. Hatte eine kurze Nacht und muss noch packen.
Leonie: Ach ja. Du Partyqueen!
Ich verziehe das Gesicht und lege das Handy an die Seite. Entschlossen rapple ich mich auf und suche die letzten Sachen aus dem Kleiderschrank zusammen. Im September ist auf Malta ebenfalls sommerliches Wetter. Wahrscheinlich steht es unserem diesjährigen Spätsommer in nichts nach, der ungewöhnlich warm ist. Klimaerwärmung oder so. Außerdem freue ich mich auf das Land. Die Fotos im Katalog des Sprachreisenanbieters sahen fantastisch aus, doch das muss nichts heißen. Mein Magen grummelt erneut. Es ist meine erste Reise allein. Was soll ich dort zwei Wochen lang machen?
Als ich alles auf dem Bett zusammengelegt habe, wuchte ich den großen Koffer in die letzte freie Lücke zwischen den Kleidungsstücken. Jetzt beginnt das Tetris-Spiel. Was brauche ich für Klamotten? Wird es abends kalt? Besser, wenn ich auf jede Situation vorbereitet bin.
Während ich die ersten Sachen hinein räume, fällt mein Blick auf den schwarzen Stoff, der auf dem Boden des Koffers liegt. Ich ziehe die Augenbrauen empor. Das ist das Kleid, das ich letzte Nacht getragen habe. Habe ich es beim Zubettgehen aus Versehen in den bereitstehenden Koffer gepfeffert? Ich halte es hoch und schlucke. Nein, das bin eindeutig nicht ich.
Kurzentschlossen gehe ich zum Schrank, öffne die Tür und werfe das kleine Schwarze in die hinterste Ecke. Nie wieder. Und jetzt Schluss mit diesen Gedanken. Entschlossen packe ich den Koffer, wobei das ein oder andere sommerliche Kleid ebenfalls seinen Weg zurück in den Schrank findet.
Als ich den Deckel zuklappe und den Reißverschluss schließe, atme ich erleichtert aus. Das wäre geschafft. Die Reise kann losgehen. Ich bin bereit.
Bist du nicht. Die Stimme meines inneren Teufelchens ist so klar und deutlich, als würde es direkt neben mir stehen.
Natürlich bin ich bereit. Ich bin siebzehn Jahre alt, fast erwachsen und werde allen beweisen, dass ich auf eigenen Beinen stehen kann. Besonders mir selbst. Ich werde diesen Urlaub genießen. Wenn Leonie ihren Weg geht, kann ich das auch.
Kannst du nicht. Leonie hat Persönlichkeit. Du warst immer die Mitläuferin.
Bin ich nicht. Ich kann auf mich aufpassen.
Hat man ja letzte Nacht gemerkt. Kannst du nicht.
Ich grummle und unterdrücke einen wütenden Schrei. Blödes Teufelchen. Oder genauer gesagt, blödes Unterbewusstsein, das auch einen Engelchen-Anteil enthält. Letzteres scheint jedoch keine Meinung zu haben. Da bekommt der Spruch Ich muss das mal eben mit mir selbst ausdiskutieren eine völlig neue Bedeutung.
Warum jetzt? Ich kann das. Wenn ich es mir lange genug einrede, glaubt mein Unterbewusstsein das sicher auch. Aber der stille Zweifel sitzt wie ein Stachel in meinem Herzen. Bin ich wirklich bereit, zwei Wochen auf Malta im Sprachurlaub zu verbringen?

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